"Von den Viechern da?" Halfdan deutet auf eine der Hungerkreaturen.
"Neun war'n das mal, als die ganze Scheiße hier anfing. Einen haben wir gleich in der ersten Nacht erwischt und ich mein, Uldrig hätt' gestern einen zweiten mitgenommen, bevor er selbst draufging. Die Kolkra da, keine Ahnung, wo die herkommt, oder ob außer ihr in den letzten vier Tagen noch andere dazugekommen sind. Kolkra dürfte es hier an der Ostküste gar nicht geben, außer südlich von Jongot. Aber der hier", Halfdan beugt sich über die Kreatur in zerrissener Kutte neben der Kolkra,
"ja, der ist von hier." Er tritt zum zweiten und denkt kurz nach.
"Bruder Gottwin, tät' ich sagen. Da, der kleine Finger fehlt. Das macht also neun weniger vier, und eine nicht bekannte Anzahl Neuankömmlinge..." Er schnalzt missbilligend mit der Zunge.
"Aber Aeryn hat recht, wir sitzen wohl doch die Nacht hier noch mal fest, also lasst uns später quatschen. Rogar kann eh besser erklären, was es mit diesen Viechern auf sich hat, er war die ganze Zeit mit Bruder Wulfhart in der Krankenstube zugange. Du und du", er zeigt auf Tristan und Hjálmarr,
"helft mir, neue Barrikaden aufzurichten. Ich hoffe, ihr habt noch mehr Wasser dabei, als Rotlöckchen da gerade als Waschwasser über euren Talahan entleert hat. Wir sind hier alle ziemlich durstig."[1] Er ruft noch kurz in den oberen Stock hinauf, dass alles in Ordnung sei, dann nickt er Aeryn zu, wie um zu bestätigen, dass er ihrem Rat damit hinreichend gefolgt ist, und verschwindet dann auf der Wendeltreppe nach unten.
Tristan hat derweil, auf Lîfs Anweisung, dem kleinen Mann Wasser eingeflösst, und sich weder am Gespräch noch an der allgemeinen Vorstellung beteiligt. Wozu soll das gut sein, wenn einer der beiden Fremden im Raum bewusstlos ist und der Rest ihrer Gruppe im Stockwerk drüber? Gescheiter wär's, man wartet, bis alle beisammen sind, dann spart man sich, alles wiederholen zu müssen. (Auch hat Tristan sich sein Lebtag noch keine fünfmal bei irgendwem vorstellen müssen, die Notwendigkeit dazu ergab sich einfach selten—
Verzeiht, ich bin Tristan Olavsson, ich raub euch jetzt aus und dann erschlag ich euch!—daher fehlt ihm jeglicher Reflex dazu.) Als Halfdan ihn mit "Du" anredet und gleich herumkommandiert, hat Tristan gar kein Problem damit—genau dasselbe hätte er jetzt auch vorgeschlagen. Er folgt den Anweisungen des Mannes wortlos. Die abfällige Bemerkung über seine Frau entlockt ihm allerdings ein Zähnefletschen. Nicht, dass seine Fahrtenbrüder nicht genauso daherredeten. Aber das waren seine Fahrtenbrüder. Der Kerl hier... sollte ein wenig dankbarer über die Unterstützung sein.
Hjálmarr hat die Zeit genutzt, um aus allen vier Fenstern zu schauen. Aus dem Westfenster sieht man in den Hof, die Türen zu Bibliothek und Schreibstube, den Platz vor dem Nordtor. Aus dem Südfenster sieht man den restlichen Hof, inklusive der Tür zum Infirmarium und dem Osttor, durch das der falsche Bruder Jarus sie einließ. Der Hof liegt verlassen da, die Schatten verlängern sich zunehmend, erobern ihn immer schneller. Nach Süden hin schaut man auf den Weg, der in einem Rechtsbogen um das Kloster herum zu der Steige führt, die sie heraufgekraxelt waren. In etwa hundert Schritt Entfernung beginnt lichter Wald und, nach kurzer Senke, eine weitere Steigung, diesmal bis in schneebedeckte Höhen, die in den letzten Sonnenstrahlen leuchten. Der Blick nach Norden zeigt dieselbe, trügerische Abendstille. Von der Nordpforte führt ein Weg ebenerdig entlang des Kammes, bis er sich in weiter Ferne im Wald verliert.
"Ein paar Mönche sahen wir noch durchs Nordtor fliehen", hat Halfdan vorhin gesagt. Dann fordert der Mann Hjálmarr auf, ihm beim Barrikadenbau zu unterstützen. Nichts leichter als das.
Aeryn, die Halfdans Bericht aufmerksam gelauscht hat, bemerkt erst als er fort ist, dass hinter ihr die beiden Verletzten längst auf Pritschen gebettet sind. Es hat noch vier weitere unzerschlagene und unbesudelte Pritschen in diesem Raum, der bis auf die fehlenden Trennwand zwischen Schlafbereich und Aufenthaltsbereich—und den vier Fenster in Sichthöhe—dem unteren gleicht.
Die drei Männer sind also auf dem Weg ins Erdgeschoss, während die drei Frauen bei den Verletzten zurückbleiben. Erst jetzt tritt
Freydis zu
Lîf und bietet Hilfe an. So ganz, wie sie sich das vorgestellt hat, will ihr die Sache aber nicht gelingen. Das war früher schon immer das Problem gewesen... die Ströme zu kontrollieren... kanalisieren... nicht einfach wild losplatschen zu lassen... Aber am Ende erreicht sie doch ihr Ziel—es landet ausreichend Wasser im Schlauch, um ihn prall zu füllen. Dazu ist Talahan wesentlich sauberer als zuvor, was schließlich Ziel der Übung war. Natürlich ist außerdem die ganze Pritsche nass. Und Lîf auch.
[2]Nach dem etwas unerwarteten Bad ist Lîf sich sicher, dass sie
Talahan gefahrlos ohne Handschuhe berühren kann, und als sie dies tut, setzt ihr Herz kurz aus: Talahan Stirn glüht wie ein Kessel überm Feuer. Seine Wangen sind aufgedunsen, die Lippen rissig, seine Augen sind so blutunterlaufen, dass man kaum noch Weißes erkennen kann. Ihr erschrockener Blick trifft den seinen. Er lächelt müde.
Darauf erhebt er sich und begibt sich schwankend zu den beiden anderen Verletzten, vor deren Pritschen er kniet. Zunächst legt er die Hand auf den Fremden, dann Abdo, dann wieder den Fremden.
[3] Sein Gebet murmelt er mit so heiserer Stimme, dass man ihn kaum verstehen kann.
Sobald sein Werk vollbracht ist, lässt er sich von Lîf wieder Anweisungen geben, die er stumm befolgt.
Schließlich kommen Halfdan und Hjálmarr wieder hoch und beginnen, auch den Zugang zur Wendeltreppe zu verbarrikadieren. Zwischendurch schnappt Halfdan sich zwei der Seile, die jeder der "Mönche" um die Hüfte geschlungen trägt, knotet sie zusammen, verschwindet damit in der Feuerstelle, in deren Inneren er das eine Ende wohl irgendwo befestigt, bevor er sich so richtig in den Abzug hineinreckt und das andere Ende in den Schacht hinablässt.
[4]Gerade als aus dem oberen Stockwerk eine besorgte Frauenstimme wispert:
"Alles in Ordnung? Können wir 'runterkommen?" regt sich der kleine Mann auf der Pritsche.
[5]Draußen ist inzwischen sternklare Nacht.