Auch Ninaes Miene hellt sich zunächst auf, als sie um die Ecke herum und an all den Leuten vorbei den Bachlauf erspäht, doch als sie selbst endlich die Brücke betritt, rümpft sie erst die Nase, dann verzieht sich ihr ganzes Gesicht wie das eines Kindes, welchem die Mutter einen Teller Grünkohleintopf vorsetzt, sodass Lîf schon denkt, als die Begleiterin sich von ihr abwendet, sie müsse sich übergeben, doch als Ninae sich ihr wieder zuwendet, blickt sie einfach nur noch entsetzt.
"Was haben die unserem lieben Bach angetan?"
Aeryn, die bereits das jenseitige Ufer erreicht hat und sich dort ein wenig umschaut, hauptsächlich allerdings nach Gegnern, Fallen und sonstigen Gefahren sucht, lenkt ihren Blick auf den Bach und erkennt zunächst nicht, was Ninae meint: das Wasser ist schwarz, was will man da erkennen? Dann aber betrachtet sie das Bachufer und versteht Ninaes Schaudern: rechterhand, also in Fließrichtung, sieht der Fels normal aus, linkerhand aber, ein paar Schritt von der Brücke entfernt, ist der Boden dick von einem dunklen Schleim bedeckt, der sich langsam darüber ergießt und schließlich ins Wasser tieft. Woher der eklige Guss kommt, kann sie nicht mehr sehen, denn kurz dahinter macht der Gang einen Bogen. Jetzt riecht sie auch etwas. Wenn ihre Nase nicht so abgestumpft wäre von all den üblen Gerüchen an diesem Ort, wäre es ihr wohl schon vorher aufgefallen: definitiv derselbe Gestank wie nach den beiden Kämpfen, als erst Bruder Edgar, dann der Zwerg mit dem seltsamen Bogen einfach so platzten und beide Male Talahan in einem Schleimregen zurückließen.
Derweil bedenkt Ninae Rogars Frage, wobei sie die Finger zu Hilfe nehmen muss, während sie mühsam zählt (mühsam, denn erstens scheinen die zehn Finger nicht auszureichen, zweitens muss sie in einem fort rauf und wieder runter zählen, schneller als der Zuschauer mitkommen kann: kaum hat sie vier hinzugezählt, nimmt sie zwei Finger auch schon wieder weg, und so weiter: offenbar geht sie das ganze Kommen und Gehen der letzten Tage Mann für Mann nach). Endlich kommt sie zu einem Ergebnis.
"Sechzehn!" wispert sie stolz.
Aeryn stellt gerade besorgt fest, dass sie immer noch viel zu sehr mit ihren Gedanken bei der schönen Ninae verweilt. Jetzt zum Beispiel bewundert sie diese für ihren Mut. Sechzehn Feinde! Und die Frau schaut nicht ängstlich, sondern grimmig entschlossen! Während Aeryn schon wieder an sich zweifelt. Schaffe ich das? Bin ich so mutig? Taugt mein Bogenarm für einen solchen Kampf, wie er uns bevorsteht?
Auf einmal steht Ninae (die sich an Rogar, Freydis und Abdo vorbeigeschlängelt hat) vor ihr und gibt ihr einen Kuss auf die Wange, bevor sie die Elbin ganz fest an sich drückt und ihr ins Ohr murmelt (übrigens in deren Muttersprache): "Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass du, zusammen mit deinen Freunden, den üblen Wesen hier den Garaus machen kannst. Die große Mutter hat euch geschickt, weil sie eure Hilfe braucht, und sie wird sich ja ja wohl genau überlegt haben, wen sie da ruft, nicht wahr?"
[1]Als Ninae sich von Aeryn löst und zu Lîf zurückeilt, sind tatsächlich alle Zweifel von dieser abgefallen—nicht nur die Selbstzweifel, die sie seit Ninaes Auftauchen plagten, sondern auch jeglicher Zweifel, den sie sich vielleicht zuvor bezüglich der Kampftauglichkeit ihrer Begleiter im einzelnen oder als Kampfverband gemacht hat: ja, zusammen werden sie es wohl schaffen, dieses Nest des Unheils hier auszuräuchern!
Da zögert die Elbin gar nicht lange, sondern schleicht auch schon den Gang jenseits der Brücke hinauf.
[2] Dieser führt mehr oder weniger geradeaus, bevor er nach zehn Schritten (mit jedem davon wird der Gestank schlimmer) scharf nach links abbiegt und, wie Aeryn vorsichtig um die Ecke spähend erkennt, in einer Höhle mündet.