Die Geschichten der Ahnen, so wird zumindest gern behauptet, erzählt man sich, weil sie Lehren enthalten, die heute noch wichtig sind. Sie erinnern an Taten, denen es nachzueifern gilt, oder an Ereignisse, welche die Welt geformt haben, so wie sie heute ist, weshalb man in den alten Geschichten Rat und Antwort findet auf nahezu alle Fragen, die der heutige Mensch sich so stellt.
Doch der heutige Mensch hat andere Dinge im Kopf. Zunächst ist er vor allem viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Der Alltag bedrängt ihn ständig mit neuen Sorgen oder Aufgaben, um die es sich zu kümmern gilt, die Lebenden fordern lärmend seine Aufmerksamkeit. Da reichen weder Zeit noch Geduld, der Alten weisen Rat zu lauschen, da bleibt kein Atem, keine Kraft, Gedanken zu verschwenden an die vergangenen Sorgen längst Verstorbener. Und, seien wir mal ehrlich: die meisten Menschen
wollen auch nichts weiter in den Geschichten sehen als erbauliche Unterhaltung, abends beim prasselnden Herdfeuer, in den langen Winternächten. Niemand möchte den Spiegel vorgehalten bekommen oder von den Vorfahren geschulmeistert oder ermahnt werden, und erst recht nicht in seinen Ansichten oder Glauben herausgefordert. Daher fallen die meisten der gutgemeinten Lehren wie Saatkörner auf Wüstensand.
Genauso halten es auch die Gefährten, die im Novizenturm lagern. Keiner hat mehr als ein halbes Ohr für die Lebensgeschichte des Sturmboten übrig, und auch keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Die Heilerin sieht darin nur eine willkommene Ablenkung für die verängstigten Kinder, die Elbin lauscht zwar mit Spannung, vielleicht, weil Menschengeschichten ihr noch unbekannt sind und daher Neugier erwecken, am Zwergen wie am Ya'Keheter dagegen geht die Geschichte völlig an den Sinnen vobei. Die Berührte schließlich denkt an die Gebräuche albionischer Fischer und stellt darauf weitschweifige Überlegungen an, ob sie in ihrem ganzen Leben denn Askyrs Geschichte schon einmal so gut erzählt bekommen habe, wie Tristan sie ihnen hier darbieten, und kommt, nachdem sie diverse, nicht immer schöne Kindheitserinnerungen diesbezüglich konsultiert hat, zu dem Schluss, dass Nein. Ist das Absicht? Dass ausgerechnet Askyrs Erbin sich mit derlei irrelevanten Fragen ablenkt? Ist dies eine bewusste Abwehr? Man könnte es meinen. Jedes Mittel scheint ihr recht zu sein, um sich nicht mit dem
Inhalt der Geschichte befassen zu müssen, wo für sie unangenehme Erkenntnisse und Einsichten lauern könnten, denen zu stellen sie sich weiterhin scheut. Kein Blick in den Spiegel für Freydis. Nicht heute. Morgen auch nicht. Am liebsten nie.
Anders als die Erwachsenen bestürmen die Novizen den Erzähler mit Fragen. Warum Askyr denn nur Frauen gerettet habe, warum nicht alle Menschen, will der Jüngste wissen; warum er überhaupt jemanden gerettet habe, wenn alle vorher zu ihm so grässlich waren und dazu noch so dumm, seine Warnungen zu missachten, der Mittlere; warum er denn gestorben sei interessiert den Ältesten.
"Auch Magie hat ihren Preis", erklärt Tristan.
"Wie alles auf der Welt. Und auch hier gibt es nur drei Zahlmittel: Geld, damit erwirbt man die einfachsten Dinge; Schweiß oder Geduld, damit erkauft man sich alle wichtigeren; die teuersten aber bezahlt man mit Blut."Die restlichen Stunden des Tages verstreichen, ohne dass jemand das Turmzimmer verlässt. Ist dies entschuldbar nach einem anstrengenden Kampf auf Leben und Tod? Dass man nur noch dahockt, Stunde um Stunde, und von nichts etwas wissen will? Die Gelehrte nichts von den Magiebüchern der nahen Bibliothek, die der falsche Bruder Edgar am Vortag erwähnte? Die beiden Heiler nicht für Abhandlungen über Gifte, die dort gewiss zu finden wären? Nun ist es so, dass die
drudkvinde nicht viel übrig hat für das geschriebene Wort, es gar verachtet und dabei wohl nicht einmal ahnt, dass Bücher einen gerade so viel wie ein Lehrmeister lehren können. Aber der Zwerg, der das geschriebene Wort verehrt, warum zieht es ihn nicht dorthin? Ist sein Kampfgeist derart gedrückt durch die eingebildete Niederlage, bloß weil er, der so heldenmutig gekämpft hat, so lange durchhielt, zum Schluss doch unter dem Beschuss des Feindes zu Boden ging? (Andererseits, hatte man diese Feste des Feindes nicht zu dem Zweck erobert, Erkenntnisse zu gewinnen? Hätte man nicht nach solchen suchen müssen, trotz der Erschöpfung, nun, da es so aussah, dass man die Stellung nur für kurze Zeit würde halten können?)
Als dann die Schatten länger werden, rafft Rogar sich wohl einmal auf und schlurft in den Pilgerturm hinüber, um dort noch einmal alles nach seinen verschwundenen Aufzeichnungen abzusuchen. Verflucht, wo können sie nur hingeraten sein—verloren? Ach, wie ärgerlich! Wieder und wieder sucht er dieselbe Stellen ab und weiß, dass es nutzlos ist, und doch kann er nicht ablassen. Wie schwer fällt es ihm, als es dann endlich an der Zeit ist, das Kloster ohne seine wertvollen Aufzeichnungen verlassen zu müssen!
Während der Zwerg fort ist
[1], nutzt Lîf ein kurzes Einnicken ihres Gatten, um sich noch einmal in den Klosterkeller zu schleichen. So recht eigentlich weiß sie nicht, was sie dort allein bewirken kann, aber etwas muss noch getan werden! Vielleicht kann man ja doch irgendwie einen Damm... woraus? und wie soll sie das allein?... errichten? Das Herz klopft ihr bis zum Hals, als sie die Treppe hinabsteigt, ganz vorsichtig, Stufe für Stufe, immer lauschend, den leuchtenden Kamm halb in der Hand verborgen, damit ihr Schein sie nicht allzu weit ins Voraus verrät... Vielleicht wünscht sie sich, als sie sich weiter in die Gänge vorwagt, dann doch irgendwann, sie hätte sich den Gatten oder wenigstens Freydis zur Unterstützung mitgenommen. Oder den anderen wenigstens mitgeteilt, wohin sie sich auf den Weg macht? Aber ach, jetzt ist sie schon so weit gekommen, jetzt kann sie auch noch ein bisschen weiter schauen, nicht wahr?
Mit diesen Gedanken beschäftigt, fällt ihr zunächst nicht auf, dass der Wasserlärm dieses Mal viel früher laut wird, und so hält, als sie die letzte Windung des Ganges vor dem Kerker umrundet, verdutzt inne, als sie plötzlich am Bachufer steht! Die Tür zum Kerker ist nicht mehr, statt dessen bricht dort jetzt das Wasser heraus und braust ihr entgegen, nur um sich kurz vor ihren Füße gen Westen zu wenden, einen Gang hinunter, den die Gruppe gar nicht untersucht hat (und der kaum breit genug für einen Menschen war), aber der wohl auch zur Felswand führt und entweder schon immer oder aber jetzt in einem Durchbruch endet.
"Und ums Aufputzen, liebster Rogar, darum kümmern sich meine Schwestern und ich" klingen ihr Ninaes Worte in den Ohren,
"und auch die Nachtschwester und der Nachtbruder sollen helfen!" Zusammen hatten die fünf offenbar den ganzen Bach umgeleitet!
Eine ganze Weile lang kann Lîf sich nicht von dem Anblick (und dem Gedanken, was für Kräfte hier am Werk waren!) losreißen, dann eilt sie doch zu den anderen zurück—erleichtert und ergriffen. In Worte fassen kann sie es nicht sofort, was sie da gerade gesehen hat!
Die Stimmung auf dem Rückweg ist gedrückt. Obwohl man doch einen Sieg errungen hat! Aber eben keinen vollständigen. Und die Ursache des ganzen schrecklichen Spuks, die hat man auch nicht aufgedeckt. Schweigsam macht sich die kleine Gruppe an den Abstieg. Feinde begegnen ihnen unterwegs keine mehr, wohl aber liegen an einer Stelle auf etwa halber Strecke drei dieser Mönche zerstückelt am Boden, die offenbar von Talahan, Hjálmarr und Halfdan niedergestreckt wurden. Am Fuß der Felswand angelangt, atmen alle ein wenig auf und es geht etwas zügiger weiter. Die Stimmung hebt sich, es wird wieder gesprochen, einsilbig und kurzatmig, aber immerhin. Nur Tristan bleibt weiterhin stumm. Seine Frau, so fällt dieser auf, hat er schon eine ganze Weile nicht einmal mehr angeschaut. Tatsächlich errötet er, sobald ihr prüfender Blick für längere Zeit auf ihm ruht und ihm dies gewahr wird.
Dann endlich ist Ansdag erreicht. Die Straßen liegen so verlassen da wie am Vorabend, als sie in umgekehrter Richtung loszogen. Da man zwei Infiszierte bei sich hat, führt der Weg die Gefährten an ihrer Herberge vorbei weiter in Richtung Solveigs Hütte. Schon von weitem sehen sie, dass sich um die Hütte der Heilerin einiges in ihrer Abwesenheit getan hat. Zwei Zelte sind dort aufgestellt, etliche Leute eilen hierhin und dorthin oder stehen in Grüppchen beisammen, oft mit beiden Händen gestikulierend. Die gestikulierenden (und offenbar debattierenden) Personen scheinen allesamt Weiber zu sein in hellen, einfachen Roben. Einige Bewaffnete sind offenbar der Begleitschutz. Einer von diesen steht abseits, den Rücken zu all den anderen gekehrt, nahe der Straße. Als die Gefährten sich nähern, blickt er auf. Es ist ein kalter, abschätzender Blick, der sie hier empfängt.
Lîfs erster Gedanke ist, dass der Mann blind sein müsse, so trüb sind seine Augen. Doch es ist offensichtlich, dass er sie sieht, deshalb gelangt sie zu dem Schluss, dass er einfach wasserfarbene Augen hat. Seine Ohren sind spitz, doch nicht ganz so länglich wie die eines Elben, und sein Haar, welches er zu einem einzelnen Zopf auf dem Rücken geflochten trägt, so blond, dass man es nur
golden nennen kann. Seine Gesichtsfarbe ist so gesund wie die einer Wasserleiche. Auf dem Rücken trägt er einen riesigen Bihänder, in der Hand hält er ein gekrümmtes Messer, mit dem er soeben noch an einer Pfeilspitze geschnitzt hat. Seine Lederrüstung ist an Brust und Schultern mit Metall verstärkt.