So hielten sich die Zirkusartisten und ihre neuen Begleiter nicht länger auf dem Hof der Lindells auf – wirklich angenehm war es hier für niemanden, besonders nicht für die Leute aus Abberton, die hier in der jüngsten Zeit eine Tortur durchlebt hatten. Wolf versuchte zunächst noch einmal, Sheriff Ralhain zu assistieren, aber sie bestand darauf, allein laufen zu können. Mit der Heilung, die sie erhalten hatte, war das sicherlich möglich, doch sie war sichtlich erschöpft. Der Abstecher zur Kirche Abbertons schien wie eine gute Idee.
Wolf verfiel unterwegs wieder in die Rolle eines Stadtführers, vielleicht auch, um die angespannte Stimmung ein wenig aufzulockern. Schneeflocke schaffte es hingegen allein, dem Mädchen namens Aima wieder ein Lächeln ins Gesicht zu locken, und der Husky genoss die Aufmerksamkeit der kleinen sichtlich, die ihn unterwegs mit Streicheleinheiten versorgte und auch das ein oder andere Stöckchen für ihn warf.
„Ich denke, ihr werdet Vater Drend mögen“, vermutete Wolf in seinem Monolog.
„Es ist hier draußen nicht leicht, geistlichen Beistand zu finden und wohl noch schwieriger ist es, Beamte dazu zu bewegen, hier draußen Fuß zu fassen. Abberton hat wohl seit jeher das Glück, dass Abadarpriester traditionell auch Bänker sind, somit sind zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Nun ja, ehrlich gesagt, sind nicht alle hier gut auf ihn zu sprechen, immerhin durchleben wir gerade eine schwere Zeit und viele haben Schulden bei der Kirche, doch ich habe ihn immer als gerecht wahrgenommen. Habe ich euch schon erzählt, dass sich die Meinungen darüber spalten, ob Abberton seinen Namen wegen den Abbers trägt, die eigentlich schon immer hier die Bürgermeister gestellt haben, oder aber ob sich das von ‚Abadar‘ ableitet? …“ Die weiße, aber schon von der Zeit etwas mitgenommene Kirche im Zentrum der Stadt war schon von Weitem zu erkennen. Das Weiß wurde von Zierleisten und Fensterrahmen in Gold, der sakralen Farbe Abadars, ergänzt, und goldgelbe Fenster, deren in Bleiruten gefasstes Mosaik Schlüssel darstellten, mussten an sonnigen Tagen dazu führen, dass das Innere der Kirche in golden wirkendes Licht gehüllt wurde. Anders als in größeren Siedlungen hielt sich der Prunk hier jedoch in Grenzen, und die abblätternde Goldbeschichtung sowie bröckelnder Putz hier und da ließen darauf schließen, dass das Kirchgebäude in die Jahre gekommen war und eine Restaurierung vielleicht schon in den nächsten Jahren dringend nötig wurde. Trotz dieser altersbedingten Schönheitsfehler wirkte die das Gelände allerdings pingelig gepflegt. Wolf erklärte, dass Vater Drend sich hier um alles selbst kümmerte.
Auf dem kleinen Friedhof, der an die Kirche angrenzte und den man auch durchqueren musste, um zu ihrem Eingang zu gelangen, reihten sich ein Grab ordentlich an das nächste, etwa hundert waren es insgesamt, die von einem breiten, gepflasterten Pfad in der Mitte abzweigten. Jedes der Gräber war mit einem Grabstein versehen, einige davon groß und aus teurem Marmor, aber die meisten schienen einfache Granitblöcke zu sein, in die die Namen der Toten, die zugehörigen Daten und hier und da auch ein Widmungsspruch eingraviert worden waren. Obwohl die Gräber gut gepflegt waren, ließen die Zahlen darauf schließen, dass sie allesamt schon älter sein mussten, tatsächlich fast zwei Jahrzehnte oder älter. So voll wie das Gelände war, hatte man vermutlich schon vor einiger Zeit den kompletten, verfügbaren Platz ausgereizt und begrub seitdem Verstorbene an einem anderen Ort. Dennoch fielen der Gruppe zwei Friedhofsgärtner auf, an denen sie unweigerlich vorbeimussten, um das Gelände zu überqueren und zum Kircheneingang zu gelangen. Mit Schaufeln ausgestattet, buddelten sie eifrig die dunkle Erde auf, die sie neben sich aufhäuften. Offenbar hatten sie schon einige Gräber ausgehoben - oder geöffnet? Immerhin gehörte zu jedem Loch auch ein Grabstein. Wolf wurde etwas stutzig, widerlegte die Anwesenheit der beiden ja, was er gerade über die Eigenständigkeit von Drend berichtet hatte. Die beiden Männer waren über ihre Arbeit gebeugt, aber scheinbar nicht vertieft genug, dass sie die Neuankömmlinge nicht bemerkten. Einer von ihnen schulterte seine Schaufel und stellte sich mit mahnender Geste in den Weg, noch bevor die Gruppe ihm und seinem Kumpan allzu nah gekommen waren. Er wirkte irgendwie unförmig, denn seine Gliedmaßen erschienen angeschwollen, als würden sie gegen die Bandagen ankämpfen, die er sich um Ärmel und Schenkel gewickelt hatte – offenbar, damit die Kleidung darunter nicht verrutschte. Sein Gesicht war nicht gut zu erkennen, denn er hatte sich eine Kapuze über den Kopf gezogen und ein Tuch verdeckte sein Gesicht. Der andere war auf dieselbe Weise gekleidet.
„Zurückbleiben, edle Herrschaften!“, schnarrte der Mann mit einer kratzenden, unmelodischen Stimme, während auch sein Begleiter das Graben einstellte und die Gruppe mit blutunterlaufenden Augen begutachtete.
„Ich würde nich’ näherkommen“, fuhr der erste fort und wies auf eins der ausgehobenen Löcher neben sich, dessen Boden für die Gruppe nicht unmittelbar einsehbar war,
„diese hier ist überreif. Pestbeulen platzen leicht und siffen vor sich hin. Ein zu tiefer Atemzug reicht und ihr werdet erst schwarz wie Pech… und dann toter als der alte Tar-Baphon.“