Doch Carnazzo war keine große Hilfe mehr für Djarissa. Er gab sich Mühe, aber außer den Informationen, die er ihr gegeben hatte, konnte er ihr keine weiteren liefern. Den Namen Rocan hatte er noch nie gehört, und auch von der Geisterwelt wusste er eher wenig.
Eine andere Informationsquelle aber offenbarte sich im Laufe der nächsten Stunden immer wieder. Die fremden Erinnerungen, welche die Geister ihr "geschenkt" hatten (oder war es doch eher ein Fluch?), traten immer wieder hervor. Teilweise waren es nur Momente, Gedankenfetzen, kurze Gespräche, doch Mosaikstein für Mosaikstein setzte sich ein Bild zusammen. Djarissa wusste, dass ihr noch vieles fehlte, um das gesamte Bild zu sehen, doch was sie bis jetzt verstand, gefiel ihr bereits nicht besonders.
Mit Hilfe des Schildgeistes Maruiko war die Gruppe um Eretria einem Mädchen auf der Spur gewesen, das man wohl guten Gewissens als das wahre Böse bezeichnen konnte: Sie war tot, und doch wandelte sie auf dieser Welt, und dabei machte sie Jagd auf die Lebenden. Die Geschichte Rocans wurde ergänzt durch Erinnerungen Milans an Maruiko, daran, dass der Schild offenbar einst dem Mädchen gehört hatte, und der Schildgeist sie noch immer spüren konnte, mit ihr verbunden war. Die Gruppe hat Maruiko als eine Art Kompass genutzt, um dem Mädchen zu folgen - und offenbar hatte es sie bis hierher geführt.
Doch die Erinnerungen offenbarten auch Hinweise darauf, wie das Mädchen - vielleicht - besiegt werden könnte. Gamael, einer der Narashi, hatte Eretria Ratschläge dazu gegeben. Djarissa erinnerte sich noch an die genauen Worte:
"Was das Mädchen angeht", setzte er dann fort, "solltet ihr nach der alten Yagmaril-Wurzel suchen. Der Legende nach stand dort vor Jahrhunderten ein Baumgeist, der sein eigenes Leben hingab, um einen sterbenden Elfen zu retten. Soweit wir wissen, ist die Legende wahr, und der Umkreis der alten Wurzeln ist heiliger Boden. Eine untote Kreatur dürfte hier ziemlich benachteiligt sein - sofern ihr sie dazu bekommen könnt, den Bereich überhaupt zu betreten. Eine andere Möglichkeit ist das Spielfeld - ein größerer, umzäunter Platz, auf dem diverse Geräte wie Kampfpuppen, Zielscheiben für Bogenschützen, Tore für sportliche Spiele und ähnliches stehen. Das ganze Chaos dort könnte bei einem Kampf für euch von Vorteil sein, wenn ihr euch vorher genau damit auseinandersetzt."
Als sich Djarissas Geist nach einiger Zeit endlich geklärt hatte, entschloss sie sich, den einzigen Ansprechpartner zu nutzen, der ihr noch blieb: Maruiko.
Sie war nervös, als sie den Namen des Schildgeistes rief. Sollte er nicht von böser Natur sein? Eretria hatte ihm nie vertraut, doch Milan hatte ihn sogar als Freund angenommen. Wer von beiden hatte Recht gehabt? Sie würde es nun wohl selbst herausfinden müssen... und hoffte nur, dass der seltsame Mann im Schild sie nicht verraten würde.
Maruiko war überrascht, ein fremdes Gesicht zu sehen. Die Katzenfrau erzählte ihm von den Geschehnissen, und davon, dass die Geister ihn ihr übergeben hatten. "Na toll", kommentierte der Schildgeist nur lapidar. "Es ist schön, wenn man als vollwertige Persönlichkeit angenommen wird, und nicht etwa wie ein Gegenstand hin- und hergereicht wird, ganz wie auf dem Kramermarkt. Die Götter mögen behüten, dass mir so etwas zustößt."
Sein Blick wanderte an Djarissa auf und ab. "Und dann noch das. Naja, versteh mich nicht falsch, du bist ganz schnuckelig... aber eben eher wie eine süße kleine Katze. Nicht wie... naja, weißt du, Mika und Eretria zum Beispiel, die hätten mich wirklich gereizt. Du hast einfach... zu viel Fell. Nicht böse gemeint."
Nach einigen weiteren Diskussionen schaffte Djarissa es, Maruiko wieder auf das ihr wichtige Thema zurückzuführen. Zu ihrer Überraschung war der Schildgeist tatsächlich bereit, ihr zu helfen. "Wer bleibt mir denn sonst noch?" war seine pragmatische Erklärung zu seiner Hilfsbereitschaft. Und es folgte eine weitere gute Nachricht: Er konnte die Anwesenheit des Mädchens noch immer spüren, und sie war noch immer in der Stadt.
Djarissa sah sich zunächst die Plätze an, die Gamael vorgeschlagen hatte, dann wollte sie sich auf die Suche nach dem untoten Mädchen machen. Doch auf dem Weg geschah etwas unerwartetes. Sie wurde von einem kleinen Jungen angesprochen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. "Das ist Maruiko, nicht wahr?" fragte er sie geradeheraus.
Der Junge trug einfache, hellgraue Leinenkleidung, und hatte schwarzes, leicht zerzaustes Haar. Seine Haut war von fast bronzener Farbe. Im Vorbeigehen hätte sie ihn für irgendein beliebiges Menschenjunges gehalten. Doch seine Augen ließen Djarissa innehalten. Irgendetwas an ihnen... sie konnte es nicht erklären, aber es schienen ihr nicht die Augen eines kleinen Jungen zu sein.
Er lächelte sie an. "Die Yagmaril-Wurzel ist eine gute Wahl. Ich werde dir helfen. Sei in einer Stunde hier. Halte dich versteckt." Dann fiel sein Blick auf Maruiko. "Und mache nicht den Fehler, ihn anzulegen."
Dann fiel sein Blick auf etwas hinter Djarissa. Er schien erschrocken, und die Katzenfrau sah sich schnell nach hinten um. Sie konnte nichts erkennen, wollte den Jungen fragen, was er gesehen hatte - doch als sie sich ihm wieder zuwandte, war er verschwunden.
Sie dachte lange darüber nach, was sie tun sollte. War es eine Falle? Oder eine Chance? Sie hatte sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen, so viel stand fest. Doch jetzt war es zu spät, umzukehren. Sie entschloss sich, den eingeschlagenen Weg weiter zu gehen. Sie suchte sich ein gutes Versteck, und wartete auf dem heiligen Platz um die Wurzel herum.
Nach einiger Zeit - es mochte tatsächlich eine Stunde sein - betrat ein Mädchen den Ort. Sie sah unschuldig aus, ein verlorenes Kind, das nach etwas suchte - vermutlich seinen Eltern. Doch Djarissa ahnte, dass sich hinter dieser Maske etwas Schreckliches verbarg.
"Wo bist du? Brüderchen, wo bist du?" rief sie leise. Maruiko, den Djarissa herbeigerufen hatte, beobachtete mit ihr zusammen die Szenerie aus ihrem Versteck. "Das ist sie", erklärte er. "Dieses kleine Mädchen hat mehr Schrecken über diese Welt gebracht als der schrecklichste Mörder, der in irgendeinem Gefängnis einsitzt."
Djarissa bereitete sich auf einen Kampf vor. Sie hatte einen Priester aufgesucht, um ihre Waffe segnen zu lassen, und hoffte nun, dass dies reichen würde. Dass sie stark genug war, um gegen die Bestie zu bestehen. Doch gerade, als sie ihr Versteck verlassen wollte, tauchte der kleine Junge wieder auf. Er lief auf das Mädchen zu, langsam, und legte dabei seinen Finger an den Mund. "Psst, bleib dort", zischte er ihr zu. Von Djarissas Position aus war sie genau zwischen den beiden, nur durch einige Sträucher versteckt.
Er kam näher, und blieb dann direkt vor Djarissa stehen. Und wandte sich zu ihr um. "Du musst mich jetzt als deine Geisel nehmen. Sie wird alles tun, um mich zu beschützen."
"Brüderchen?" fragte das Mädchen. Djarissa blieb keine Zeit zum Nachdenken. Sie musste handeln, und so tat sie es auch. Sie kam aus ihrem Versteck hervor, und hielt dem Jungen ihre Handaxt an den Hals. "Bleib wo du bist, oder er stirbt!" rief sie.
Das Mädchen fauchte sie an, und mit einem Mal bröckelte ihre Maske: Ihr Gesicht zerfiel, die Haut wurde bleich und rissig, die Augen fahlweiß. Ihre Hände wurden zu Klauen, das Gebiss zu dem irgendeines schrecklichen Raubtiers. Im Bruchteil einer Sekunde war aus dem süßen Mädchen eine schreckliche Bestie geworden. Djarissas Hand zitterte, nicht nur vor Angst, sondern auch wegen der Kälte, die plötzlich aufgetreten war.
"Lass ihn gehen", zischte sie ihn an. Dann fiel ihr Blick auf Maruiko. "Und gib mir zurück, was mir gehört."
"Komm bitte zu mir, große Schwester", bat sie der Junge. Vorsichtig, Schritt für Schritt, kam das Mädchen näher. Was sollte Djarissa tun? Angreifen?
Irgendwann war sie nur noch zwei Schritt von Djarissa entfernt, sah sie aus den kältesten Augen an, die Djarissa je gesehen hatte. Plötzlich streckte der Junge seinen Arm aus, zeigte auf etwas hinter dem Mädchen. "Vorsicht!"
Sie drehte sich um. Der Junge berühte mit der anderen Hand Djarissas Axt, dann sah er zu ihr hoch. "Jetzt", flüsterte er. Djarissa reagierte. Sie schlug zu, und die Axt spaltete dem Mädchen den Kopf. Es ging so schnell, dass sie es selbst kaum glauben konnte. Was auch immer der Junge getan hatte, er hatte ihre Bewegungen so sehr beschleunigt, dass seine Schwester nicht einmal die Chance hatte, sich noch einmal umzudrehen. Die Klinge traf ihr untotes Fleisch, und ihr Körper begann zu glühen, zu brennen - und löste sich dann in einem sanften Zischen auf. Sie war fort, als wäre sie nie da gewesen.
Der Junge drehte sich zu Djarissa um. "So lange schon... viel zu lange. Sie wollte mich immer nur beschützen, aber ich will dieses Dasein nicht mehr. Ich bin so müde. Befreie mich, wie du sie befreit hast. Bitte."
Er lächelte ihr zu. "Als Dankeschön gebe ich dir noch etwas, wonach du glaube ich suchst. Es sind zwei Frauen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Ich weiß nicht, wie lange es schon her ist... viele, viele Generationen. Sie sind nicht wie wir, und doch sind sie seit damals keinen Tag gealtert. Ich kenne ihre Geheimnisse nicht, aber sie haben einen Plan. Einen Plan, der dieser Welt nichts Gutes verheißt. Meine Schwester... sie war nur ein kleiner Mosaikstein, glaube ich. Die beiden sind noch in der Stadt. Sie geben sich als Heilerinnen aus."
Damit setzte sich der Junge im Schneidersitz auf den Boden, und sah zu Djarissa. "Bitte. Du tötest mich nicht. Ich bin schon tot, sehr, sehr lange. Du befreist mich."
Und so entschloss sich Djarissa, dem Jungen, der ihr geholfen hatte, seine Schwester zu vernichten, die Freiheit zu schenken....