"Ach so", antwortet das Mädchen. "Ich dachte ja nur, du bist vielleicht ein Hase. Wegen der Ohren und weil, du hoppelst ja auch so." Aber sie scheint Aeryns Versicherung, eine Elbin zu sein, zu akzeptieren. Jedenfalls kommt kein Widerspruch oder Nachhaken. (Unklar bleibt, ob sie die geringste Ahnung hat, wer die Elben sind, oder überhaupt schon mal von ihnen gehört hat. Jedenfalls sind es keine Hasen. Das genügt ihr wohl.) Sie winkt Aeryn noch einmal fröhlich zu, dann gesellt sie sich wieder zu den anderen Kindern, denen das Gespräch längst langweilig wurde und die schon wieder spielen.
Wie Lîf sich so umschaut und dabei in sich hineinhört, um das ungute Gefühl zu ergründen, das sie an diesem Ort befangen hält, so findet sie zwar immer noch keine Anzeichen in ihrer Umgebung, die eine Erklärung böten, aber ihr Gefühl reift zur Gewissheit: dieser Ort hatte viel Leid erlebt. Es war ein altes Leid, sicherlich schon Jahrhunderte her, aber es lastete noch immer schwer auf der Seele dieses Ortes. Verwunschen nannte der Volksmund dies. Ob es hier Geister gibt? Oder liegt das Unglück schon so lange zurück, dass die Geister bis in die tiefsten Tiefen Hels hinabgesunken sind, wo sie wenn schon keinen Frieden, so aber Vergessen fanden und den Weg ins Diesseits nun nicht mehr oder nur noch selten suchten? Bei derlei Gedanken kann einem ja nur ein Schauer über den Rücken fahren. Sie ist froh über den Arm, den Tristan um sie legt – und noch mehr über seine Rechte, die auf dem Knauf seines Schwertes liegt.
"Deswegen hat die Mutter uns ja hierher geschickt", murmelt er ihr zu. "Um herauszufinden, was hier in der Gegend los ist."
Derweil untersucht Rogar, von Abdo darauf angesprochen, die versunkenen Ruinen. Sein erster Gedanke zur Frage ist: ha, wenn das hier von Dain erbaut worden wäre, dann stünde es ja wohl noch! Allerdings, kaum versucht er nachzudenken, ob sein Volk hier einmal gesiedelt haben könnte, so muss er zugeben, dass er es nicht weiß. Er stellt die Überlegung erst einmal zurück und schaut sich das Mauerwerk an. Ha, Backstein! So etwas verwenden die Dain kaum. Nur für Bauten, die schnell gehen sollen und nicht lange halten müssen. Eine Siedlung aus Ziegelbauten, das wäre für Dain so etwas wie für Menschen ein Zeltlager. Aber hatte sein Volk hier einst ein "Zeltlager" errichtet? Er schaut sich weiter um und erkennt schnell mehrere Dinge: die Steine waren richtig alt. Jahrtausende. Aber wieviele? Er lässt seinen Blick umherschweifen. Die Umrisse von Gebäuden finden sich nicht nur auf dem Hügel, sondern ziehen sich zumindest im Westen (wahrscheinlich auch im Süden) den Hang hinab bis ans Meer. Nicht nur Gebäudeumrisse lassen sich erkennen, sondern auch die Hauptverkehrsadern: eine breite Straße führt vom Rand des Villagschen Gutes schnurstracks bis ins Meer. Links und rechts – vielleicht anderthalb tausend Schritt entfernt, aber der Dain kann es gerade noch ausmachen – verlaufen zwei weitere Straßen schräg dazu, um sich weit draußen im Meer mit der geraden (und fünf weiteren) in einem großen Platz zu treffen, dem Mittelpunkt, dem pulsierenden Herzen einer jeden hakadischen Stadt. Diese Ruinen sind um die 3000 Jahre alt und erbaut wurden sie nicht am Meer. Damals war hier kein Meer. Damals konnte man von hier aus bis zur östlichsten der Rûngard-Inseln und wahrscheinlich noch ein gutes Stück darüber hinaus mit Pferd, Wagen oder zu Fuß über gut ausgebaute Straßen reisen. Das Volk, das die Straßen und diese Stadt hier erbaut hatte, wurde bis auf den letzten Mann, Weib und Kind von der großen Katastrophe ausgelöscht, die auch das dainsche Großreich zerschlug, vor 2500 Jahren oder 2700, so genau können das nicht einmal die dainschen Archivare sagen.
Keller, sagt Rogars Handwerkerverstand ihm da, den Historiker mit seinem theoretischen Kram beiseiteschiebend. Auch wenn der Rest dem Erdboden gleich ist, es könnte noch Keller geben.
Abdos erneuter Ruf ins Haus hinein bleibt ebenfalls ohne Antwort. Auch verbessern sich die Lichtverhältnisse kaum durch das Aufstoßen der Tür: das tief überhängende Dach, die sechs Stufen hinab, Abdos Gestalt im schmalen Eingang - da schafft es kein Sonnenstrahl hindurch. Immerhin gewöhnen Abdos Augen sich ein wenig an das Dämmerlicht. Etwa fünfzehn Schritt voraus gehen zwei schmale Gänge von der Eingangshalle ab, an der Wand dazwischen hängt einiges Haushaltsgerät. Die Wand ist gemauert und ähnelt den Mauerresten, die Abdo draußen entdeckt hat.
Nach rechts hin verjüngt sich der Raum und endet schließlich in einem weiteren Gang; Jacken und ähnliche Kleidung hängt dort an den beiden grob gezimmerten Schrägwänden und Schuhwerk steht darunter, zwei Paar Stiefel an der vorderen Wand (weit weniger als Kleiderhaken) und etwa zehn Paar leichte Schuhe an der hinteren (passend zu den Haken). Linkerhand liegt ein altes Fell in der Ecke, davor ein Trink- und ein Essnapf, doch keine Spur von dem Hund, der hier offenbar seinen Platz hat. Ein weiterer Durchgang führt neben dem Hundelager nach links.
Keine Menschenseele lässt sich blicken.