Wie Kyra es erwartet hatte, war auch der Schlafraum nur spärlich eingerichtet, aber mehr konnte sie in diesem Haus wohl nicht erwarten. Während sie zu einer der am weitesten entfernten Matratzen lief, nahm sie sich eine der Decken von dem Stapel. Nach kurzem Zögern zog sie ihr Kleid aus und legte es fein säuberlich auf eine freie, saubere Fläche, auf der man es nicht übersehen und aus Versehen darauf treten würde. In Anbetracht der Tatsache, dass höchst wahrscheinlich einige der Männer auch in diesem Raum schlafen würden, war es vielleicht nicht angemessen, nur in Unterwäsche zu schlafen, aber sie hatte keine Lust in ihrem Kleid zu schlafen und dies zu verknittern, ganz abgesehen davon, dass es sehr ungemütlich war. Also legte sie sich hin, drehte sich zur Seite und hüllte sich in die Decke. Kurz darauf fiel sie in eine tiefe Trance...
....Stück für Stück verschwand der Raum aus Kyras Sicht und wurde durch das Abbild eines großen, düsteren Schlosses inmitten einer großen Grünfläche mit vielen Bäumen ersetzt. Aber das ganze Bild wirkte unwirklich, die Farben waren dunkler und matter als sie eigentlich sein sollten und Geräusche waren nur sehr schwach hörbar, wie wenn sie von sehr weit entfernt kommen würden. Zielstrebig schritt Kyra auf das Schloss zu, vorbei an merkwürdigen Statuen, die verschiedene Personen und Kreaturen darstellten. Sie war diesen Weg schon oft entlang geschritten und in letzter Zeit kam er ihr immer länger den kürzer vor.
Vor dem großen hölzernen mit Eisenstreben beschlagenen Doppeltor blieb sie stehen und musterte die beiden Wachen, die sich rechts und links davon postiert hatten. Aus irgendeinem Grund wirkten sie auf Kyra bedrohlicher als sonst, mit ihren langen Hellebarden, in ihren stachelbesetzten Rüstungen und ihren aufgrund der dunklen Schatten nicht zu erkennenden Gesichter. Wie immer kreuzten sie ihre Hellebarden um Kyra den Eintritt zu verwehren, doch nach einiger Konzentration Kyras begannen sie langsam zu einer schlammigen Masse zu verfallen, die auf den Boden herabsackte und sich dort in den Boden hinein fraß.
Nach ein Paar weiteren Gedanken flog das Doppeltor aus seinen Angeln, landete irgendwo auf dem Weg zwischen den Statuen und Kyra schritt durch den Torbogen. Mit vorsichtigen Schritten ging Kyra den langen Saal entlang, vorbei an schön verzierten Säulen, teuer aussehenden Wandteppichen, goldenen Rüstungen und kunstvoll verzierten Waffen an den Wänden.
Am Ende des langen Saals weitete sich der Raum und in der Mitte stand ein sündhaft teuer aussehender Diwan inmitten eines riesigen Haufen Goldes und Edelsteine, auf dem sich sehr lasziv eine Gestalt räkelte, die starke Ähnlichkeiten mit Kyra hat. Das Gesicht, der Körper, alles war fast identisch, bis auf den dunklen Schatten, der sich um die Gestalt gewickelt zu haben schien. Die Gestalt war nur spärlich Bekleidet, stark mit Schmuck behangen und lies sich von einem Diener, einer dunklen amorphen Masse Schattens eine große saftige Fleischkeule von dem riesigen vor ihr aufgebauten Festmahl reichen, die sie förmlich hinunter schlang.
Mit einer eiskalten Stimme wandte sich die Gestalt an Kyra: „Hast du dich wiedereinmal her getraut? Nach deiner miserablen Leistung heute hätte ich das nicht erwartet... Du warst doch so gut wie nutzlos, was hast du den großartiges vollbracht? Du hast dich gefangen nehmen lassen, warst eingesperrt wie ein räudiger Köter, im Schlamm und Dreck bist du umhergekrochen. Hast dich von diesem Barbaren befreien lassen, du, von diesem wilden Vieh, mehr Tier als Mensch! Hast dich von diesem dahergelaufenen, narbengesichtigen Möchtegern Schurken herumkommandieren lassen, als ob er Aeron persönlich wäre! Du warst so erbärmlich, dass dich selbst der verzogene kleine Bengel bemitleidet hat! Im Kampf bist du nutzlos und feige in der letzten Reihe gestanden, hast anderen den Ruhm gelassen! Hast du Kreaturen zur Unterstützung beschworen? War es dein Axthieb, der die Kreaturen zerteilte, dein Dolch zwischen ihren Rippen? War es dein Zauber, der die Kreatur schmerzhaft aufheulen lies, wie der des schwächlichen Spieluhrnarren?
Oder aber hast du auf der Flucht Weitsicht bewiesen, wichtige Vorschläge gemacht? Waren es deine Ideen, die eure hübschen kleinen Köpfe vorerst aus der Schlinge gezogen haben? Oh nein, du bist heulend in der Ecke gesessen und hast die wichtigen Entscheidungen den anderen überlassen... Du bist eine Schande für deine Familie, es ist nur gut, dass dein Vater nicht mehr lebt um das zu erfahren...“
Ohne ein Wort zu sagen, mit einem verbitterten Gesichtsausdruck und einer einzelnen Träne, die ihre Wange herunter lief, streckte Kyra ihre Hand aus und schickte einen dicken schwarzen Strahl in Richtung der Gestalt, den diese fast gleichzeitig mit einem identischen Strahl erwiderte, der Kyras Strahl zurückdrängte und sie erfasste. Schmerzerfüllt krümmte sie sich am Boden, den auch wenn sie wusste, dass die Schmerzen nicht real waren, fühlten sie sich doch so an.
Wie auf ein Stichwort erschien neben Kyra eine weitere Gestalt, dieses Mal vollständig aus Schatten bestehend und flüsterte ihr sanft zu: „Schmerz...Leid...Angst...lass mich dir helfen... du weist, dass ich dir helfen kann... du kannst alles hinter dir lassen... du musst nur JA sagen... dann wird dich nichts mehr davon belasten...nichts davon wird dich quälen... du brauchst dich vor nichts mehr zu fürchten... du musst es nur zu lassen... sag einfach JA...“
Nach gefühlten Stunden des andauernden Schmerzes und dem ständigen drängen des Schattens verschwamm das Bild des Thronsaals und Kyra fiel in einen sanften Schlaf.