Diesmal ist es
Abdo selbst, der Freydis, welche bereits in Richtung Ausgang unterwegs ist, aufhält.
"Warte!" ruft er ihr nach.
"Hier unten ist noch jemand."Auch die Aufmerksamkeit der anderen richtet sich auf den Gang hinter Tristan.
Aeryn fragt nach einem Schlüssel für das Gittertor, während
Rogar bereits dabei ist, Tristan loszubinden.
[1]"Der Schlüssel hängt da", antwortet Uther, auf einen Haken an der Wand deutend. Dann tritt er zum Dain und packt mit an.
"Was ist denn mit ihm?" fragt er, als man Tristan auf die Beine zerrt.
Freydis erklärt.
"Der Dämon, mit dem Eure Frau sich eingelassen hat, habt ihr mit eigenen Augen fliehen gesehen. Er hatte aber einen zweiten Dämon als Helfer dabei. Dieser ist während des Kampfes, als Tristan sterbend auf dem Boden lag, in diesen gefahren. Tristan ist nun besessen, wie Merle es zuvor war. Aber wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Abdo hier weiß zu berichten, dass es in seiner Heimat mehrmals geglückt ist, einen Dämon auszutreiben, wenn auch teils mit tödlichem Ausgang. Der Dämon selbst hat einen Tausch vorgeschlagen. Und ich wollte gerade... aber davon später. Lasst uns erst um das Naheliegende kümmern."Und so ist Tristan schnell vom Gitter losgebunden, aber ansonsten wieder festverschnürt mit den Armen auf dem Rücken. Dies geschieht unter den spöttischen Kommentaren des Dämons, der sich offenbar gerne reden hört – das gab er ja bereits zu: wie schön es ist, Stimmbänder zu haben! Sich artikuliert und zivilisiert äußern zu können...) – ansonsten aber ohne Gegenwehr.
Der Gang dahinter ist kurz und endet abrupt mit einem (uralten) Einsturz. Die jüngeren Bewohner hatten auch hier einige Nischen für Vorräte angelegt sowie einen Verschlag, der wohl offenbar tatsächlich für die kurzzeitige Verwahrung von Missetätern gedacht ist. Hier passt derselbe Schlüssel wie zuvor.
Die Gefangenen sind schnell befreit. Ein halbes Dutzend verängstigter Mägde und Knechte des villagschen Gutes, eingepfercht in dem Gitterverschlag, so weit unversehrt. Nur in einer der Nischen liegt das nahezu vollständig abgenagte Gerippe eines Unglücklichen, welcher der Wolfskreatur offenbar als Speise gedient hat.
Kjartan, der seit Rogars Lob mit geschwollener Brust durch die Gegend rennt, ist überall mit dabei und packt mit an, wobei er sich die Hälfte der Zeit tatsächlich äußerst nützlich macht, die andere Hälfte allen im Weg umgeht.
Eine kurze Befragung der Befreiten fördert wenig Verständliches und nichts Neues zu Tage. Nachts aus den Betten seien sie gerissen worden und hierher verschleppt. Immer wieder sei einer von ihnen geholt worden, einer wurde vor ihren Augen verspeist, was aus den anderen wurde, wissen sie nicht. Schreie haben man wohl gehört, so laut, dass sie von oben bis hierher in den Keller drangen. Das sei ziemlich zu Beginn gewesen.
[2] Uther wendet sich an eine Magd, welche am gefasstesten von allen erscheint, und heißt sie, mit den anderen zu ihren Hütten zurückzukehren und sich darum zu kümmern, dass alle versorgt seien. Zuvor dürften sie sich in der herrschaftlichen Küche mit Speise versorgen, dort hinge ein Eintopf über dem Feuer. Sobald hier unten alles geklärt sei, käme er dann hinaus, um nach ihnen zu schauen.
Lîf ist die erste, die sich Merles Werkecke genauer anschaut. Zuerst schaut sie, mit göttlicher Unterstützung, ob sich unter Merles Habe magische Dinge befinden. In mehreren Fläschchen befindet sich offenbar etwas stärkeres als Kamillentee, doch am hellsten strahlt der kleine Kupferkessel, in welchem sie ihre Tinkturen angerührt hat. Nicht nur wunderbar gearbeitet und rundum mit Ranken verziert, summt er geradezu vor magischer Energie. Die Fläschen mit den Tränken sind allesamt beschriftet, aber lesen kann Lîf ja nicht. Es befinden sich dort keine Zeichen, die sie erkennt. Zusätzlich haben die Fläschchen verschiedene Formen und Farben; möglicherweise steckt ein System dahinter. Man müsste sich mit jemandem zusammentun, der lesen kann und ebenfalls etwas von Tinkturen und Heilkunde versteht, um da das Gute vom Schlechten zu sortieren.
An Kräutern liegen nur einige Überreste herum; Merle war ja, als die Gruppe hereinkam, mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Der frischabgefüllte Trank, den sie zuvor gebraut hatte, muss allerdings während des Kampfes zu Boden gegangen sein: dort liegt er als Lache inmitten von Glassplittern. Überhaupt Glassplitter. Davon gibt es hier eine ganze Menge. Sogar ganz hinten in der Ecke vor der leuchtenden Säule knirrscht es unter jedem von Lîfs Schritten. Hier sieht es so aus, als hätte jemand einen gläsernen Gegenstand gegen die Wand geschleudert, worauf dieser in tausend Teile zersprang. Um ein milchig weißes Glas handelt es sich dabei, doch keins der Fläschchen in dem Regal ist von dieser Farbe.
Freydis übernimmt weiterhin die Aufgabe, Uther – so von Adelstochter zu frischgebackenem Fürsten – über alles zu informieren, was die Gefährten über Fluch und Seuche herausgefunden haben. Ein paarmal murmelt der Fürst wohl noch fassungslos dazwischen, doch er scheint Freydis' Schilderungen zu akzeptieren und sich mit der Situation mehr und mehr abzufinden. (So ganz scheint Freydis nicht zu wissen, ob sie Uther mit Du oder mit Euch anreden soll, sie schwankt recht wahllos zwischen beiden Optionen. Hat man genug gemeinsam durchlebt, um das Du zu rechtfertigen? Ist man von gleichem Rang? Oder nun gerade nicht mehr, seit der blutigen Statusänderung von Fürstensohn zu Fürst? Uther scheint darüber in ähnlicher Verwirrung wie Freydis.)
Aeryn macht sich, wie versprochen, an eine erste Sichtung von Merles Notizen und Büchern.
[3]Auch
Rogar tritt zu diesem Zeitpunkt interessiert hinzu.
[4] Jedoch, von den Fundstücken heimlich etwas einzustecken, wie er es im Zimmer des Abtes tat, dürfte schwierig werden, solange der Hausherr noch bei ihnen steht und zuschaut.
Kjartan, von Abdo angewiesen, passt auf Tristan auf.
"Es tut mir leid", sagt Uther schließlich. Seine Worte scheinen hauptsächlich
Lîf zu gelten.
"Es tut mir leid, was Euch in meinem Haus angetan wurde. Wenn es etwas gibt, das ich tun kann, um Euch zu helfen... um die Sache wiedergutzumachen... ich wusste wirklich nicht... hatte keine Ahnung, dass mein Weib... mein eigenes Weib...!"Hier ringt er einige Momente um die Fassung.
"Und Dank schulde ich Euch auch. Euch allen. Mein Weib hat Unglück über ganz Ansdag gebracht, welches Ihr, dem Einen sei Dank, nun abgewendet habt. Rast und Verpflegung sind das Mindeste, was ich Euch anbieten kann. Und falls Ihr sonst noch etwas benötigt, drei Kammern voll hat mein Vater mit Zeug und Kram von der Himmel weiß woher erbeutet oder getauscht oder zugetragen. Vieles davon ist zerbrochen oder hatte niemals einen erkennbaren Nutzen, aber vieles ist auch noch funktionstüchtig. Da dürfte sich einiges darunter befinden, mit dem Ihr Euch für Eure weitere Aufgabe besser ausrüsten könnt. Drei Dinge davon soll sich ein jeder von Euch aussuchen, so wie er es gebrauchen kann... oder sie natürlich."[5]