Mikas Träume (Shemiyas Erinnerungen):I.Es war vielleicht das Irritierendste von allem. Sie träumte von dem jungen Mann namens Milan, der zu der seltsamen Gruppe gehörte, die sie heute kennengelernt hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, was genau sie geträumt hatte, aber sein Gesicht, dass sah sie vor sich, so genau, als würde er vor ihr stehen...
II.Vor sich erblickte sie das Gesicht von Milan. Wenn er doch nur wüsste, was sie wirklich für ihn empfand... doch sie war froh über das, was sie hatte. Er passte auf sie auf, wie sie es sich niemals zu hoffen gewagt hätte...
III.Mika lächelte. Dort lag er und schlief, sanft wie ein kleiner Junge. Sie spürte, wie nervös sie war. Sie hatte Angst. Morgen war der große Tag. Gewiss, sie brachte sich auch selbst in Gefahr... aber vor allem fürchtete sie um sein Leben. Sie wünschte, es gäbe einen anderen Weg. Aber sie hatte lange darüber nachgedacht. Es ging nicht anders, die Priesterin musste sterben, sonst würden die Qualen nie ein Ende nehmen...
IV.Mika sah, wie die Klinge den Leib der Priesterin durchbohrte. Die anderen Priester und die Wachen waren viel zu entsetzt, um zu reagieren. Und, natürlich, einige der Wachen gehörten zu ihnen.
Aliya fiel zu Boden. Sie wartete. Wartete auf das Glücksgefühl, das hätte kommen sollen. Die Befreiung, nachdem sie endlich ihre Rache bekommen hatte, Rache für ihr Volk, ihre Familie…
Es blieb aus. Die Priesterin war tot, doch ebenso fühlte sich Mika…
V.Mika traute sich kaum, zu atmen. Regungslos lag sie da, seit Stunden, wie ihr schien. Sie hatte schon lange nichts mehr gehört, keinen einzigen Schritt... und keinen Schrei mehr. Es war dunkel geworden. Vielleicht konnte sie es nun wieder wagen, sich zu bewegen.
Zitternd schob sie den toten Körper, der neben ihr lag, ein wenig zur Seite. Alles geschah so mechanisch, sie hatte kaum das Gefühl, selbst ihren Körper zu steuern. Sie kämpfte sich nach oben, langsam, vorbei an den Leichen ihrer früheren Freunde und Nachbarn. Sie war unter ihnen begraben worden, nachdem einer der Angreifer ihr ein Schwert durch den Bauch getrieben hatte. Sie wäre selbst eine der Leichen, wenn sie nicht die Macht des Lebensliedes angerufen hätte. Sie hatte nicht gewagt, zu singen, doch die Melodie nur in ihrem Kopf hervor zu rufen, hatte zumindest genügt, um dem Tod zu entkommen.
Wie betäubt lief sie durch das niedergebrannte Dorf. Sie ahnte, dass es in den Nachbardörfern nicht anders aussah. Sie war dankbar, im schwachen Mondlicht nur wenig von den zerstückelten Leichen zu sehen, doch der Rauch der abgebrannten Häuser drang unvermindert in ihre Nase.
Sie wusste nicht, wohin sie laufen sollte, also lief sie einfach in irgendeine Richtung. Ihr Bauch schmerzte noch immer, und sie spürte die Narbe, wenn sie mit ihrer Hand darüber strich. Doch noch immer wagte sie nicht, zu singen. Wer wusste schon, ob die Angreifer nicht doch noch Wachen zurückgelassen hatten, für den Fall, dass jemand überlebt hatte?
Sie lief. Alles, was sie im Moment wollte war, das Dorf hinter sich zu lassen. Das Dorf, das seit sechszehn Jahren ihre geliebte Heimat gewesen war...
VI."Shemiya!"
Sie lächelte. Unael winkte ihr zu, von der Spitze des Felsens, den er erklommen hatte. Der Junge war kaum vierzehn Jahre alt, und jetzt schon davon überzeugt, dass er eines Tages als Held in die Geschichten eingehen würde. Und auch davon, dass Shemiya die Frau an seiner Seite sein würde.
Sie hatte ihm sanft, aber deutlich klar gemacht, dass sie kein Interesse hatte. Das hielt ihn nicht davon ab, zu werben, und sie störte sein Gehabe nicht weiter. Es war amüsant.
Sie wandte den Blick ab, sah auf den Steinbrocken in ihrer Hand. "Also, mein Freund, was möchtest du mir erzählen?"
Sie schloss die Augen. Eine Melodie erklang in ihrem Geist, und verließ kurz darauf ihre Lippen. Musik, die universelle Sprache. Die ganze Natur war erfüllt von ihr, wenn man nur zu lauschen wusste. Sie konzentrierte sich auf den Stein, auf sein Wesen, seine Form, seine Struktur, seinen Geist...
Ein sanftes, melodisches Brummen ertönte in ihrer Brust. Unwillkürlich musste sie an die Meditationen ihres Großvaters denken. Mühsam unterdrückte sie ein Kichern bei dem Gedanken, wie sie als Kind immer wieder versucht hatte, ihn zu stören. Er hatte es ihr nicht übel genommen, es als Herausforderung betrachtet. Und irgendwann hatte er das Licht gefunden...
"Die Geister des Lichts weinen."
Ihre Lippen hatten die Worte geformt, doch es war der Geist des Steins, der aus ihr sprach.
"Etwas Finsteres nimmt Besitz von beiden Welten, der Welt der Sterblichen und der Welt der Geister. Himmelssängerin Shemiya, bereite dich vor auf einen Krieg!"
VII.Shemiya bemühte sich, sich zu beruhigen. Sie war ja froh, dass die reichen Adligen sich einen Doppelsarg leisten konnten, auch wenn Lochnar - so sehr sie ihn mochte - nicht der Mann war, mit dem sie eines Tages würde beerdigt sein wollen...
"Was ich dich immer fragen wollte..." Lochnar stockte. Er war einer der ältesten Freunde Marushans, und er schien fast immer die richtigen Worte zu finden.
"Was denn?"
"Versteh mich nicht falsch, ich finde richtig, was wir hier tun. Wir können dem Sonnenvolk nicht trauen. Wir müssen handeln, bevor sie es tun. Aber... du weißt, dass Marushan diesen Krieg für dich führt, oder? Er kann es nicht ertragen, dich leiden zu sehen. Er wünscht sich, dass du deinen Frieden findest. Dass du ihn findest, wenn du deine Rache bekommst. Das ist für ihn der wahre Grund, diesen Krieg zu führen. Ohne dich hätte die Schlacht, die uns bevorsteht, für ihn keine Bedeutung mehr."
Die Worte stachen Shemiya ins Herz, tiefer als es eine Klinge gekonnt hätte.
Nein, das konnte nicht sein. Der Krieg war nötig, er war...
Und doch, tief in ihrem Innern spürte sie es. Wie sehr sie Marushan gedrängt hatte. Er hatte den Krieg nicht gewollt. Viele Abende hatte sie mit ihm diskutiert, über die Gefahr, was passieren würde, wenn sie diesen Krieg nicht führten. Doch hinter den Worten, was hatte sie ihm da gesagt? Ich brauche meine Rache...
Sie schüttelte den Kopf. Das war Unsinn. Sie konnte, sie durfte solche Gedanken nicht zulassen. Marushan war ein erwachsener Mann, der Führer eines ganzen Volkes. Er hatte diese Entscheidung getroffen, weil es richtig war. Wäre dem nicht so, dann würde die Verantwortung für diesen Krieg bei ihr liegen, bei ihr ganz allein. Sie wäre es, die den Opfern dieses Krieges das Leben geraubt hätte, eine Diebin, die den Menschen die Zukunft stiehlt, eine Diebin des Lebens...
Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht. Was waren das nur für Gedanken? Hatte sie diese Zweifel, weil sie jetzt so kurz davor stand? Nein, sie würde sich nicht ablenken lassen. Nicht jetzt.
Das Sonnenvolk würde büßen. Aliya würde büßen. Sie war es, die Schuldige, die Verantwortliche für diesen Krieg, und sie musste sterben für das, was sie getan hatte.
Shemiya traf keine Schuld, sie hatte keine Verantwortung für das, was geschah. Sie, eine Diebin. Eine Diebin, die den Menschen das Leben stiehlt. Diese Gedanken waren lächerlich.
"Du denkst zu viel nach, Lochnar", antwortete sie schließlich. "Marushan ist ein erwachsener Mann. Er tut, was er tut, weil er es für richtig hält."
Nein, sie, Shemiya, traf keine Schuld...
VIII.Lachend lief Shemiya über den Sand. Ihr älterer Bruder jagte sie, Tlendrae. Sie wusste, dass er extra langsamer lief, um sie entkommen zu lassen. Wenn er es wollte, könnte er sie jederzeit einholen, so wie er es am Ende immer tat...
Sie rannte zu dem Baum, ihrem Lieblingsbaum, und blieb dort erschöpft stehen. Tlen hatte sie ihn getauft, nach ihrem Bruder, weil er so groß und mächtig war. Das war inzwischen drei Jahre her, und Shemiya war seitdem ein gutes Stück gewachsen, aber auch, wenn der Größenunterschied geschwunden war, kam ihr Tlendrae noch immer groß und mächtig vor.
"Hab dich!" rief er, als er schließlich bei ihr ankam. Sie lachten beide, und nahmen sich dann kurz in den Arm.
"Großer Bruder, es ist so schön zu wissen, dass du immer auf mich aufpassen wirst", lächelte sie ihn an.
Er schüttelte den Kopf. "Nicht für immer, nein. Irgendwann wirst du selber fliegen müssen. Und dann, wenn du alt genug bist, wirst du jemand anderen finden, der auf dich aufpasst."
Sofort wurde sie wütend. Sie war vierzehn! Sie wollte keinen anderen Jungen, der auf sie aufpasste. Auch nicht später, nein, niemals. Sauer funkelte sie Tlendrae an, und wandte sich dann dem Baum zu. "Hallo Tlen. Du verstehst mich wenigstens. Du wirst immer für mich da sein, oder?"
So lange, bis das große Feuer kommt.
Erschrocken machte sie einen Schritt zurück. Dann sah sie zu Tlendrae. "Wie hast du das gemacht?"
Ihr Bruder sah sie verwirrt an. "Was gemacht?"
Ich bin der, den du Tlen nennst. Dein Bruder kann meine Stimme nicht hören. Du aber hast dich über all die Jahre hinweg auf mich eingestimmt. Du hörst den Gesang, die Melodie der Welt. Es ist an der Zeit, dass du den Weg deiner Bestimmung gehst.